Wozu dient Kata-Training?


Ein fundamentaler Pfeiler von koryû bugei ist ihr Wissen. Ein Wissen, das den heute lernenden Schülern nicht nur einen nostalgischen Einblick in längst vergangene Tage zeigt, sondern ihnen vielmehr ein über Jahrhunderte hinweg angesammelter Fundus an Informationen offenbart. Doch wie wurden diese Überlieferungen weitergegeben und wie können Personen heutzutage von dem gleichen Wissen profitieren? Dies sollte in diesem Artikel ausgeleuchtet werden.

 

Schriftliche Überlieferung

Der entscheidende Faktor für eine Überlieferung über lange Zeit ist, dass das Wissen nieder geschrieben wird und effektiv trainiert wird. Damit ist garantiert, dass spätere Generationen dieses Wissen empfangen können und nicht jede Generation es permanent neu entdecken und entwickeln muss. In Japan wurde Wissen in allen Künsten seit Jahrhunderten akribisch festgehalten und in dieser Tradition konnten auch koryû ryûha ihr Krieger-Wissen - d.h. ihre Konzepte hinsichtlich Kriegskunst, Nahkampf, Taktik, Waffenkunde, Strategie, Weltanschauung oder Philosophie etc. - schriftlich sammeln, tradieren und auch weiterentwickeln. Dies wurde meistens codiert in Schriftrollen von Grossmeister zu Grossmeister (soke oder shihanke) weiter gegeben, respektive je nach Schule auch an Meisterschüler, welche sich als äusserst fähig (menkyo kaiden) erwiesen. 

 

Doch wie überliefert man Wissen, welches sich einerseits nur schwierig in Worte fassen lässt, respektive andererseits nicht ausschliesslich kognitiv verstanden werden kann, sondern nur durch jahrelanges intensives Training und schliesslich intrinsische Selbsterkenntnis?

 

Kata

Der Schlüssel dabei liegt in den Techniken - auch Kata oder Waza - genannt, welche das Schlüssel-Element der Wissensübertragung bei koryû bugei darstellen. Denn durch sie werden die Geheimnisse einer jeden Schule - ihre Techniken selber, die Situationsapplikationen (Skills) und ihre Strategien - gelehrt und übermittelt. Doch was sind demnach Kata?

Einfach und oftmals in sportlichen Kontexten ausgedrückt, wird das Wort Kata und seine Schreibart in Japanisch simpel als Form verstanden. Sie ist aber nie Form alleine, sondern die obigen drei Geheimnisse (Techniken, Applikationen und Heihô) verbergen sich in seiner Form. Kata zeichnet sich dadurch aus, dass ritualisiert Patterns geübt und gedrillt werden, welche die jeweilige Schule als zwingend angesehen hat, um das Kämpfen und ihre Methode zu erlernen. Kata dient formal ausgedrückt - neben Kamae, Heihô und Philosophie - der Schule zur Systematisierung und Regularisierung ihrer Prinzipien. Dies kann modern gesprochen mit Üben in geschlossenen Situationen gleichgesetzt werden, da Situationen sicher und kontinuierlich geübt werden können, welche z.B. in der realen Welt oder in einer kompetitiven Art nie gemacht werden könnten, da sie beispielsweise zu gefährlich wären. So erkannte Jigoro Kanô, der ja in seiner Kindheit koryû bugei trainierte, als er Jûdô entwickelte und vor allem den Fokus auf die sportliche Ertüchtigung mit Sparring (randori) und Wettkämpfe (shiai) legen wollte, folgendes: 

 

    „Kanô selbst beschrieb bereits 1889 das grundlegende Dilemma, dass Techniken, die im „echten Kampf“, also für Selbstverteidigung oder den militärischen Nahkampf, wirksam sind, bei Anwendung im Randori (Sparring) ein nicht hinnehmbares Verletzungsrisiko darstellen. In dieser Frage musste sich Kanô zwischen dem sicheren Üben einerseits und dem effektiven Üben der „gefährlichen Techniken“ andererseits entscheiden, was er zugunsten der Sicherheit auch tat.“ (Zitat aus Dax-Romswinkel, 2011)

 

 

Prinzip von Shu-Ha-Ri

Es ist jedoch sehr wohl möglich, echte Kampftechniken (jissen gata) zu üben. Denn faktisch sind alle Kata in koryû bugei Techniken für den realen Ernstfall, da in keiner Weise sportliche Absicht dahinter stehen. Je nach Stufe werden die Techniken stufengerecht trainiert und das Training der Kata hat demnach andere Foki. So kennt man neben den Kriegskünsten in Japan in diversen Künsten, wie Kalligrafie (shodô), Ikebana oder Teezeremonie (ôcha) das Prinzip Shu-Ha-Ri (bewahren - aufbrechen - hinter sich lassen): 

Shu (mamoru = bewahren) bedeutet, dass der Anfänger die Formen getreu erlernt, imitiert und dadurch die Form, Grundprinzipien und die Basis einer Schule erlernt.

Ha (yabureru = aufbrechen) ist die zweite Stufe für Fortgeschrittene, welche die Form der Techniken dermassen gut beherrschen, dass sie anfangen können, Variationen der Kata in ihr Arsenal zu integrieren. Das strenge Korsett der Kata wird dabei immer mehr aufgelöst und sie beginnen sich davon zu lösen. 

Ri (hanareru = hinter sich lassen) ist die letzte Phase und bedeutet für den Experten, das ganze Arsenal von fixen, abgeänderten oder improvisierten Mustern zur Verfügung zu haben und sie frei nach Belieben zu gebrauchen. Das heisst, Form wird transzendiert in eine andere oder neue Form, spontan, aber natürlich aufgrund der Erfahrung gewonnen aus den Kata. 

Kata-Training ist gemäss Friday (1997) demnach eine methodologisch effiziente Art, eine bestimmte Methode weiterzugeben und zu trainieren, da es ein fix definierter Rahmen von Kata gibt, die je nach Stufe in eine unbeschränkte Methode erweitert werden können. Sie ist jedoch kein Garant, dass jeder Schüler das Potential ausschöpfen wird und die Geheimnisse der Schule verstehen wird, denn das liegt je nach Verfassung oder Trainingsbereitschaft bei jedem selber. 

 

Problematisch war es von daher auch schon in der Vergangenheit, wenn das Kopieren von Techniken zu leerem Formalismus (und schliesslich inhaltlich leeren Techniken) führt. Dann ging das effektive Ziel von Kata-Training verloren. Dies beschreiben Quellen, welche dies bereits im 17. Jahrhundert in der befriedeten Edô-Zeit (1603-1868) in Japan bei Samurai-Schulen beobachten konnten. Dann ist jedoch eine Schule faktisch verkommen, das heisst die Prinzipien für den Ernstfall werden nicht mehr gelebt und trainiert, ihre Kata sind ähnlich wie Tänze oder künstlerische Performances und haben lediglich einen historisch-ästhetischen Wert.

 

Kata sollte daher als Pattern des kontinuierlichen aufrichtigen Lehrens/Lernens (tanren) und des Lebens gesehen werden, die es einem mit einem guten Instruktor erlauben, die in den Techniken verborgen liegenden Prinzipien (einer Schule oder eines Stiles) anderen Personen zu zeigen und selber weiterzuelernen. Denn nur durch eigenes konstantes Üben von Kihon und Kata werden die Formen und Techniken eines Stils intrinisch verbessert und die schlummernden Prinzipien aus der Vergangenheit können Wirklichkeit werden. Dies wird in buddhistischen oder konfuzianischen Kontexten auch mind-to-mind transmission outside of texts genannt.

 

 

Referenz 

Friday: Legacies of the Sword, 1997.

Dax-Romswinkel: Grundwissen der Geschichte des Kôdôkan-Jûdô in Japan, 2011.